TEIL ZWEI

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Die ersten Puppen, die kleinen Figürchen aus der Zeit, als er noch jünger war, geschaffen, um die von ihm entworfenen Häuser zu bevölkern, waren mitsamt ihrer Kleidung sorgfältig aus hellem Holz geschnitzt und anschließend bemalt worden, die Kleidung aus leuchtenden Farben, die Gesichter voller winziger, doch wichtiger Details: hier war die Wange einer Frau geschwollen, um anzudeuten, daß sie Zahnschmerzen hatte, dort hatte ein fröhlicher Bursche einen ganzen Fächer von Lachfältchen an den Augenwinkeln. Seit diesen lange zurückliegenden Anfängen hatte er das Interesse an den Häusern verloren, während die Figuren, die er herstellte, an Größe und psychologischer Vielfalt gewachsen waren. Heutzutage begannen sie als Figurinen aus Modelliermasse, sozusagen Lehm, aus dem der Gott, der nicht existierte, den Menschen geformt hatte, der existierte. Das war das Paradoxon des menschlichen Lebens: Sein Schöpfer war fiktiv, aber das Leben selbst war ein Faktum.

Er betrachtete sie als Menschen. Wenn er sie ins Leben rief, waren sie für ihn genauso real wie seine Bekannten. Hatte er sie jedoch fertig und kannte ihre Vorgeschichte, ließ er sie bereitwillig ihrer eigenen Wege gehen: Für die Fernsehkameras konnten andere Hände sie manipulieren, andere Künstler sie formen und kopieren. Ihn kümmerten einzig ihr Charakter und ihre Geschichte. Alles andere war nichts als ein Spiel mit Puppen.

Das einzige seiner Geschöpfe, in das er sich verliebte - das einzige, das er niemals von einem anderen in die Hand nehmen ließ sollte ihm das Herz brechen. Und das war natürlich Braingirl: zuerst Puppe, später Marionette, dann Zeichentrickfigur und danach Schauspielerin oder, bei verschiedenen anderen Gelegenheiten, Talkshow-Moderatorin, Turnerin, Ballerina oder Supermodel in Braingirls Kleidern. Ihre erste Late-Night-Serie, von der niemand sich viel erwartete, war mehr oder weniger genauso gemacht worden, wie Malik Solanka es wünschte. In diesem Zeitreise-Programm war B.G. die Schülerin, während die eigentlichen Helden die Philosophen waren, die sie aufsuchte. Nach der Verlegung auf den besten Sendeplatz jedoch mischten sich die Manager des Senders ein. Das Originalformat sei viel zu anspruchsvoll, wurde erklärt. Braingirl sei der Star, und die neue Show müsse um sie herum entworfen werden, hieß es. Statt ständig umherzureisen, brauche sie einen festen Standort und eine Gruppe von ständig wiederkehrenden Mitspielern. Sie brauche eine Liebe oder, besser noch, eine Reihe von Verehrern, wodurch die heißesten jungen Schauspieler der Gegenwart als Gaststars in der Show auftreten könnten, sie selbst aber niemals festgelegt werden mußte. Vor allem brauche sie Comedy: intelligente Comedy, geistreiche Comedy, ja, aber es müsse definitiv sehr viel zu lachen geben. Vielleicht sogar Konservengelächter. Autoren könnten, würden Solanka zur Verfügung gestellt werden, um seine Hit-Idee für ein Massenpublikum weiterzuentwickeln, das von nun an damit in Kontakt kommen werde. Das sei es doch, was er wollte, nicht wahr: mitten in den Mainstream hineinkommen. Wenn eine Idee sich nicht entwickeln ließ, war sie gestorben. Das waren die Fakten des Fernsehlebens.

Also zog Braingirl in die Brain Street von Brainville, mit einem ganzen Familien- und Nachbarschaftsclan von Brains: Sie hatte einen älteren Bruder, der Big Brainboy hieß, ein Stück weiter die Straße entlang gab es ein wissenschaftliches Labor, das Brain Drain hieß, und selbst einen lakonischen Cowboy-Filmstar und Nachbarn namens John Brayne. Es war schmerzlich, aber je platter die Comedy wurde, desto höher stiegen die Ratings. Brain Street schaffte es, die Erinnerung an Braingirls Abenteuer innerhalb einer Minute zu löschen, und machte sich für eine lange, lukrative Laufzeit bereit. An einem gewissen Punkt beugte sich Malik Solanka dem Unvermeidlichen und verabschiedete sich aus dem Programm. Aber er behielt den Rechtstitel der Show, achtete darauf, daß seine moralischen Rechte an seiner Erfindung geschützt wurden, und handelte für sich einen ansehnlichen Anteil an den Merchandising-Einkünften aus. Ansehen mochte er die Show nicht mehr. Aber Braingirl ließ keinen Zweifel daran, daß sie froh war, als er ging.

Sie war über ihren Schöpfer hinausgewachsen - buchstäblich; denn sie war jetzt lebensgroß und um etwa zehn Zentimeter größer als Solanka - und ging ihrer eigenen Wege in der Welt. Genau wie Hawkeye, Sherlock Holmes oder Jeeves hatte sie die Arbeit, aus der sie entstanden war, hinter sich gelassen und die fiktive Version der Freiheit erreicht. Sie pries Produkte im Fernsehen an, eröffnete Supermärkte, hielt Tischreden und leitete Gong-Shows. Als Brain Street abgelaufen war, war sie zu einer bekannten Fernsehpersönlichkeit aufgestiegen. Sie hatte ihre eigene Talkshow, trat als Gast in neuen Hit-Comedies auf, ging für Vivienne Westwood auf den Laufsteg und wurde von Andrea Dworkin - intelligente Frauen brauchen keine Puppen zu sein - attackiert, weil sie Frauen herabwürdige, und von Karl Lagerfeld (welcher echte Mann will eine Frau mit einem größeren, ich sage mal, Wortschatz als er?), weil sie Männer entmanne. Beide Kritiker erklärten sich anschließend sofort einverstanden, gegen hohe Beratungsgebühren einer Konzeptgruppe hinter B.G. beizutreten, einem Team, das bei der BBC als Braingirl-Trust bekannt war. Braingirls bubble-gum-poppiger Debütfilm Brainwave war ein seltener Fehltritt und grandioser Flop, aber der erste Band ihrer Memoiren(!) setzte sich, sobald er angekündigt wurde, sogar Monate vor seinem Erscheinen sofort an die Spitze der Amazon-Bestsellerlisten und erzielte über eine viertel Million allein an Vorbestellungen von hysterischen Fans, die unbedingt die ersten sein wollten. Nach dem Erscheinen brach er alle Rekorde; ein zweiter, dritter und vierter Band folgten, einer pro Jahr, und die Bücher verkauften sich nach vorsichtigen Schätzungen weltweit insgesamt über fünfzig Millionen Mal.

Sie war die Maya Angelou der Puppenwelt - eine genauso unbarmherzige Autobiographin wie jener andere Vogel im Käfig - und ihr Leben das Vorbild für Millionen junger Menschen: die bescheidenen Anfänge, die Jahre des Kampfes, der triumphale Erfolg; und, o ja, ihre Unerschrockenheit angesichts von Armut und Grausamkeit! Oh, diese Freude, als das Schicksal sie zu einer jener Auserwählten machte, zu denen sich voll Stolz auch Mila Milo zählte, die Kaiserin des Cool in der West Seventieth Street. (Ihr ungelebtes Leben! dachte Solanka. Ihre fiktive Vergangenheit, teils phantastisches Märchen, teils bettelarme Getto-Saga, und alles ghostwritten für sie von anonymen Leuten mit Pseudo-Talent! Dies war nicht das Leben, das er sich für sie vorgestellt hatte; dies hatte nichts mehr mit der Vorgeschichte zu tun, die er sich voller Stolz und Freude erträumt hatte. Diese B.G. war eine Hochstaplerin mit der falschen Lebensgeschichte, dem falschen Dialog, der falschen Persönlichkeit, der falschen Garderobe, dem falschen Brain. Irgendwo im Medienland gab es ein Chateau d’If, wo das echte Braingirl gefangengehalten wurde. Irgendwo gab es eine Puppe mit einer Eisernen Maske.)

Das Seltsame an ihrer Fangemeinde war ihre Allgemeingültigkeit: Jungens liebten sie genauso wie Mädchen, Erwachsene genauso wie Kinder. Sie überschritt sämtliche sprachlichen, rassischen und sozialen Barrieren. Sie wurde, je nachdem, die ideale Geliebte ihrer Bewunderer, ihre Vertraute oder das Ziel ihrer eigenen Wünsche. Der erste Band ihrer Memoiren wurde von den Amazon-Leuten in die Sachbuch-Liste aufgenommen. Der Entschluß, ihn und die folgenden Bände in die Welt des schönen Scheins zu befördern, wurde sowohl von den Lesern wie von den Angestellten kritisiert. Braingirl, argumentierten sie, sei längst keine Erfindung mehr. Sondern ein Phänomen. Die Fee hatte sie mit ihrem Zauberstab berührt, und sie war real.

Dies alles beobachtete Malik Solanka aus der Ferne mit steigendem Entsetzen. Diese seiner eigenen Phantasie entsprungene Kreatur, geboren aus seinem besten Ich und reinstem Bemühen, verwandelte sich vor seinen Augen in genau die Art Monster von geschmackloser Berühmtheit, die er am allertiefsten verabscheute. Sein ursprüngliches, nun aber ausgelöschtes Braingirl war von Natur aus intelligent gewesen, durchaus in der Lage, mit Erasmus oder Schopenhauer zu plaudern. Sie war schön und scharfzüngig gewesen, aber sie hatte sich im Meer der Ideen getummelt, hatte ein intellektuelles Geistesleben gelebt. Diese revidierte Ausgabe, über die er schon lange die schöpferische Kontrolle verloren hatte, besaß dagegen den Intellekt eines leicht überalterten Schimpansen. Tag für Tag wurde sie mehr zu einem Teil des Entertainment-Mikroversums, ihre Musikvideos - o ja, sie nahm jetzt auch Songs auf! - übertrafen die von Madonna, ihre Auftritte bei Premieren waren Hurley-ähnlicher als die aller Starlets, die jemals in einem gewagten Kleid den roten Teppich betreten hatten. Sie war Videospiel und Covergirl und dabei - jedenfalls trat sie so auf - im wesentlichen eine Frau, deren eigener Kopf vollständig in dem der Puppen-Ikone verborgen war. Trotzdem bewarben sich zahlreiche Aspirantinnen auf Starruhm um die Rolle, obwohl der Braingirl-Trust - der so groß wurde, daß die BBC ihn nicht mehr halten konnte, und er sich zu einer florierenden, unabhängigen Firma entwickelte, die irgendwann bald die Millarden-Dollar-Grenze zu durchbrechen gedachte - auf absoluter Vertraulichkeit bestand; die Namen der Frauen, die Braingirl Leben verliehen hatten, wurden niemals verraten, obwohl es jede Menge Gerüchte gab und die Paparazzi in Europa und Amerika ihre ganz spezielle Erfahrung ins Spiel brachten und behaupteten, diese Schauspielerin oder jenes Model an den anderen, nicht dem Gesicht zugehörigen Attributen erkannt zu haben, die Braingirl so voll Stolz zur Schau trug.

Erstaunlicherweise verlor das hohlköpfige Braingirl durch das neue Glamour-Image keine Fans, es gewann vielmehr eine ganz neue Anhängerschaft erwachsener, männlicher Bewunderer hinzu. Sie war nicht mehr aufzuhalten, gab Pressekonferenzen, bei denen sie davon sprach, eine eigene Filmproduktionsfirma zu gründen, eine eigene Zeitschrift zu lancieren, in der Schönheitstips, Lifestyle-Ratschläge und kritische, zeitgenössische Kultur das ganz spezielle Braingirl-Treatment erhalten würden, und sie kündigte sogar an, in den gesamten USA im Kabelfernsehen aufzutreten. Es sollte eine Broadway-Show geben - sie verhandelte mit allen Hauptdarstellern der Musical-Szene, dem lieben Tim, dem lieben Elton, dem lieben Cameron und, natürlich, dem lieben, lieben Andrew -, und außerdem war ein neuer Big-Budget-Film geplant. Der würde nicht die sentimentalen Teeny-Bopper-Fehler des ersten wiederholen, sondern organisch aus den Millionen einbringenden Memoiren erwachsen. »Braingirl ist keine Plastik-Phantastik-Barbie-Spice«, erklärte sie der Welt - sie hatte es sich angewöhnt, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen -, »und der neue Film wird wirklich sehr menschlich werden, Qualitätsarbeit durch und durch. Marty, Bobby, Brad, Gwynnie, Meg, Julia, Tom und Nie sind alle interessiert; außerdem Jenny, Puffy, Maddy, Robbie und Mick: Ich glaube, heutzutage wollen alle das Braingirl sein.«

Der ständig wachsende Triumph des Braingirls gab natürlich Anlaß zu zahlreichen Kommentaren und Analysen. Ihre Bewunderer wurden wegen ihrer primitiven Besessenheit verhöhnt, aber sofort meldeten sich berühmte Theaterpersönlichkeiten zu Wort und sprachen von der uralten Tradition des Maskentheaters, das seine Ursprünge in Griechenland und Japan hat. »Die maskierte Schauspielerin ist von ihrer Normalität, ihrer Alltäglichkeit befreit. Ihr Körper erfreut sich außerordentlicher neuer Freiheiten. All das wird von der Maske diktiert. Die Maske ist es, die agiert.« Professor Solanka hielt sich abseits und lehnte alle Einladungen zu Diskussionen über sein außer Kontrolle geratenes Geschöpf ab. Das Geld vermochte er jedoch nicht abzulehnen. Die Tantiemen flössen weiterhin auf sein Bankkonto. Die Habgier bemächtigte sich seiner, und diese Habgier verschloß ihm die Lippen. Vertraglich verpflichtet, die Gans, die goldene Eier legte, nicht zu attackieren, mußte er seine Gedanken zurückhalten und, weil er ganz auf sich allein angewiesen war, die bittere Galle seiner zunehmenden Unzufriedenheit schlucken. Mit jeder neuen Medien-Initiative, angeführt von der Figur, die er einst mit so großer Freude und Sorgfalt entworfen hatte, wuchs in ihm die ohnmächtige Wut.

Im Hello!-Magazin gestattete Braingirl - für eine angeblich siebenstellige Summe — den Lesern einen privaten Blick in ihr wunderschönes Landhaus, das offenbar ein alter Queen-Anne-Bau in der Nähe des Prince of Wales in Gloucestershire war, und Malik Solanka, ursprünglich von den Puppenhäusern im Rijksmuseum inspiriert, war wie vom Donner gerührt über diese jüngste Wendung. Nun sollten diese hochnäsigen Puppen also auch noch große Villen besitzen, während der größte Teil der Menschheit in engsten Unterkünften hauste? Das Unrecht - in seinen Augen der moralische Bankrott - dieser ganz besonderen Entwicklung beunruhigte ihn zutiefst; dennoch hielt er, weit davon entfernt, selber bankrott zu gehen, den Mund und nahm das schmutzige Geld dankend an. Zehn Jahre lang hatte er, wie Art Garfunkel wohl in sein Mikro gesagt hätte, einen ganzen Haufen Selbstverachtung und Rage in sich angesammelt. Die Wut stand über ihm wie eine brechende Hokusai-Welle. Braingirl war sein kriminelles Kind, zu einer rasenden Riesin herangewachsen, die jetzt alles darstellte, was er verabscheute, und mit ihren riesigen Füßen alle hehren Prinzipien zertrampelte, die zu preisen er sie erschaffen hatte; darunter offensichtlich auch seine eigenen.

Das B.G.-Phänomen hatte in den 1990ern begonnen und ließ auch im neuen Jahrtausend keinen Hinweis auf ein Nachlassen der Schwungkraft erkennen. Malik Solanka war gezwungen, sich eine schreckliche Wahrheit einzugestehen: Er haßte Braingirl.

Mittlerweile trug alles, was er in die Hand nahm, nur noch eher kärgliche Früchte. Er trat weiterhin mit Figuren und Storylines an die neuerdings erfolgreichen britischen Produzenten von Sendungen mit sprechenden Puppen heran, erfuhr aber, freundlich wie auch unfreundlich, daß seine Konzepte nicht mehr zeitgemäß seien. In einer Geschäftswelt junger Menschen war er etwas viel Schlimmeres geworden als einfach nur älter: Er war altmodisch. Bei einer Sitzung, in der über seinen Vorschlag diskutiert wurde, einen Trickfilm in Feature-Länge über das Leben Niccolö Machiavellis zu drehen, gab er sich allergrößte Mühe, die neue Sprache des Kommerzialismus zu sprechen. Im Film sollten natürlich anthropomorphische Tiere auftreten, welche die menschlichen Originale darstellten. »Da ist wirklich alles drin«, begeisterte er sich ungeschickt. »Das Goldene Zeitalter von Florenz! Die Medici in all ihrer Pracht - coole Aristocats! Simonetta Vespussy, die schönste Katze der Welt, unsterblich gemacht durch den jungen Hund Barkicelli. Die Geburt der Felinen-Venus! Le Sacre du Pussy-Printemps! Während Amerigo Vespussy, der alte Seelöwe, ihr Onkel, lossegelt, um Amerika zu entdecken! Savona-Roland, der Rattenmönch, entzündet das Feuer der Eitelkeiten! Und im Mittelpunkt von allem, eine Maus. Aber nicht einfach die alte Mickey Mouse: Dies hier ist die Erfinderin der Realpolitik, die brillante Dramatiker-Maus, der berühmte Volksnager, die republikanische Maus, die eine Folter durch den grausamen Katzenfürsten überlebt hat und im Exil von einem Tag der glorreichen Wiederkehr träumt ...« Unhöflich wurde er von einem Manager der Finanziers unterbrochen, einem rundlichen jungen Mann, der höchstens dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte. »Florenz ist gut«, sagte er. »Gar keine Frage. Das gefällt mir. Und Niccolö, wie haben Sie ihn genannt?, Mausiavelli klingt... machbar. Aber was Sie sonst noch da haben - dieses Treatment -, ich will’s mal so sagen. Das hat Florenz einfach nicht verdient. Vielleicht, ja?, ist es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für die Renaissance in Plastilin.«

Ich könnte ja wieder Bücher schreiben, dachte er, merkte aber schon bald, daß er nicht mit dem Herzen dabei war. Die Unerbittlichkeit der Geschehnisse, die Tendenz der Ereignisse, ihn von seinem Weg abzulenken, hatte ihn verdorben und ihn im wahrsten Sinne des Wortes zum Taugenichts gemacht. Sein altes Leben hatte ihn endgültig verlassen, und auch die neue Welt, die er erschaffen hatte, war ihm durch die Finger geschlüpft. Er war James Mason, ein untergehender Stern, trank viel, ertrank in Niederlagen, und diese verdammte Puppe flog in der Judy-Garland-Rolle bis in den Himmel hinein. Bei Pinocchio endeten Geppettos Sorgen, als die verflixte Marionette zu einem echten, lebendigen Jungen wurde; bei Braingirl war das, wie bei Galatea, der Anfang. In seinem trunkenen Zorn belegte Professor Solanka sein undankbares Frankengirl mit Bannflüchen: Aus den Augen soll sie mir gehen! Verschwinde, unnatürliches Kind. Siehe, ich kenne dich nicht. Du sollst nicht meinen Namen tragen. Laß mich nie mehr zu dir kommen, bitte niemals um meinen Segen. Und nenne mich niemals wieder Vater.

Bald darauf verließ sie sein Haus, und zwar in all ihren Variationen: den Zeichnungen, Maquetten, Tableaus, den endlosen Auswüchsen all ihrer Myriaden von Versionen, Papier, Stoff, Holz, Plastik, Zeichentrick, Videoband, Film; und mit ihr verschwand unvermeidlicherweise auch eine einstmals kostbare Version seiner selbst. Er hatte es nicht ertragen können, diesen Akt der Vertreibung persönlich auszuführen. Eleanor erklärte sich bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Eleanor, die zusah, wie sich die Krise aufbaute - die roten Äderchen in den Augen des Mannes, den sie liebte, der Alkohol, das ziellose Umherwandern -, sagte auf ihre sanfte, doch resolute Art: »Du gehst jetzt den ganzen Tag aus dem Haus und überläßt alles andere mir.« Sie hatte ihre eigene Verlagskarriere unterbrochen, weil Asmaan im Moment alles war, was sie an Karriere brauchte, aber sie war ein Erfolgsmensch gewesen und immer noch überall begehrt. Auch das verbarg sie vor ihm, obwohl er nicht dumm war und wußte, was es bedeutete, wenn Morgen Franz und andere anriefen, um mit ihr zu sprechen, und eine halbe Stunde lang auf sie einredeten. Sie war begehrt, das war ihm klar, alle waren begehrt, nur er nicht, aber er konnte sich wenigstens diese armselige Rache gönnen; er konnte auch mal etwas nicht begehren, selbst wenn es nur dieses doppelgesichtige Wesen war, diese Verräterin, diese, diese ... Puppe.

Also verließ er am verabredeten Tag das Haus, stapfte im Eilmarsch über die Hampstead Heath - sie wohnten in einem geräumigen, zweigiebligen Haus an der Willow Road und hatten sich stets darüber gefreut, die Heath, North Londons Schatz, seine Lunge, direkt vor der Tür zu haben -, und während er fort war, hatte Eleanor alles sorgfältig verpackt und in einen Langzeit-Lagerraum gebracht. Er hätte es vorgezogen, den ganzen Krempel auf die Müllkippe von Highbury zu werfen, aber auch darin ließ er sich überreden. Eleanor hatte darauf bestanden. Sie besaß einen stark ausgeprägten archivarischen Instinkt, und da er sie für dieses Projekt brauchte, quittierte er ihre kritischen Bemerkungen mit einer Handbewegung wie gegen eine lästige Mücke und erhob keine Einwände. Stundenlang marschierte er, ließ sich die heftig bewegte Brust von der kühlen Musik der Heath, ihrem stillen Herzrhythmus der gemächlichen Wege und Bäume und später am Tag von den süßen Geigenklängen eines Sommerkonzerts auf dem Iveagh Bequest beruhigen. Als er nach Hause kam, waren die Braingirls verschwunden. Oder vielmehr, fast verschwunden. Denn ohne Eleanors Wissen war eine Puppe in einem Schrank in Solankas Arbeitszimmer verschlossen. Und da blieb sie.

Das Haus wirkte leer, als er zurückkam, ausgeräumt, wie ein Haus nach dem Tod eines Kindes. Solanka hatte das Gefühl, auf einmal zwanzig, dreißig Jahre gealtert zu sein; als stehe er, vom besten Werk seiner jugendlichen Begeisterung getrennt, endlich Auge in Auge mit der unbarmherzigen Zeit. Waterford-Wajda hatte vor Jahren im Addenbrooke von einem solchen Gefühl gesprochen. »Das Leben wird so, ich weiß nicht, so endlich. Du erkennst, daß du nichts hast, daß du nirgendwo hingehörst, daß du die Dinge nur für eine Weile benutzt. Die leblose Welt lacht dich aus: Du wirst bald gehen, sie aber wird bleiben. Nicht sehr tiefschürfend, Solly, das klingt nach der Philosophie von Pooh, dem Bären, ich weiß, aber es zerreißt dir trotzdem das Herz.« Dies ist nicht einfach der Tod eines Kindes, dachte Solanka: Es ist eher wie ein Mord. Kronos, der seine Tochter verschlingt. Er war der Mörder seines fiktiven Kindes: nicht Fleisch von seinem Fleische, sondern Traum von seinem Traume. Aber da war ein lebendiges Kind, noch immer wach und überdreht von den Ereignissen des Tages: dem Eintreffen des Möbelwagens, der Packer, dem ständigen Hinein und Hinaus von Kisten. »Ich habe geholfen, Daddy«, begrüßte Asmaan seinen Vater eifrig. »Ich hab geholfen, Braingirl wegbringen.« Er kam mit zwei aufeinanderfolgenden Konsonanten noch nicht gut zurecht und sagte statt br nur b: B’aingi’l. Er hat ja recht, dachte Solanka. Sie ist mein bane geworden, mein Verderben. »Ja«, antwortete er zerstreut. »Gut gemacht.« Aber Asmaan hatte noch mehr auf dem Herzen. »Wieso mußte sie Weggehen, Daddy? Mummy hat gesagt, du willst, daß sie weggeht.« Ach ja? Mummy hat das gesagt? Soso. Vielen Dank, Mummy. Er funkelte Eleanor an, die nur die Achseln zuckte. »Ehrlich, ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte. Das ist nun deine Aufgabe.«

Im Kinderfernsehen, in Comic-Heften und in Hörbuchausgaben ihrer legendären Memoiren hatte Braingirls proteische Persönlichkeit die Hand ausgestreckt und die Herzen von Kindern erobert, die sogar noch jünger waren als Asmaan Solanka. Drei war nicht zu jung, um sich in diese weltweit anziehendste aller zeitgenössischen Ikonen zu verlieben. B.G. konnte aus dem Haus an der Willow Road vertrieben werden, aber konnte sie aus der Phantasie des Sohnes ihres Schöpfers vertrieben werden? »Ich will, daß sie zurückkommt!« erklärte Asmaan nachdrücklich. Zurück lautete zurüt. »Ich will B’aingi’l.« Die pastorale Symphonie von Hampstead Heath wich den schrillen Dissonanzen des Familienlebens. Solanka spürte, wie sich wieder einmal die Wolken um ihn herum verdichteten. »Es war an der Zeit, daß sie ging«, gab er zurück und hob Asmaan hoch, der sich heftig gegen ihn wehrte, nach Kinderart unbewußt auf die schlechte Laune des Vaters reagierte. »Nein! Laß mich runter! Laß mich runter!« Er war müde und quengelig, und Solanka war es auch. »Ich will ein Video sehen«, verlangte er. Viduwo. »Ich will B’aingi’l-Viduwo sehen.« Malik Solanka, durch den schweren Verlust des Braingirl-Archivs, ihre Verbannung auf irgendein Puppen-Elba, in irgendeine Stadt am Schwarzen Meer wie Ovids ödes Tomis für unerwünschte, verbrauchte Spielsachen aus der Ruhe gebracht, fühlte sich unerwartet in einen Zustand gestürzt, der tiefer Trauer ähnelte, und empfand die Tagesendlaunen als eine inakzeptable Provokation. »Es ist zu spät. Benimm dich!« fuhr er ihn an, woraufhin Asmaan sich auf den Wohnzimmerteppich hockte und seinen jüngsten Trick präsentierte: einen heftigen Ausbruch eindrucksvoll überzeugender Krokodilstränen. Solanka, nicht weniger kindisch als sein Sohn und ohne die Ausrede, drei Jahre alt zu sein, ging auf Eleanor los. »Ich nehme an, dies ist deine Art, mich zu bestrafen«, sagte er. »Wenn du das Zeug nicht loswerden wolltest, warum hast du’s dann nicht einfach gesagt? Warum benutzt du ihn? Ich hätte wissen müssen, daß es Ärger gibt, wenn ich nach Hause komme. Irgendeinen manipulativen Mist wie das hier.«

»Bitte, laß ihn nicht hören, wie du mit mir sprichst«, sagte sie und zog Asmaan in ihre Arme. »Er versteht alles.« Wie Solanka vermerkte, ließ sich der Junge von seiner Mutter ohne die geringste Gegenwehr zu Bett bringen, ja, barg das Gesicht dabei an Eleanors langem, schlankem Hals. »Eigentlich«, fuhr sie sachlich fort, »hatte ich mir gedacht - törichterweise, wie sich herausstellt -, nachdem ich den ganzen Tag für dich geschuftet habe, könnten wir diesen Moment für einen Neubeginn nutzen. Ich habe einen Lammschlegel aus der Gefriertruhe geholt und mit Kreuzkümmel eingerieben, ich habe im Blumengeschäft angerufen, o Gott, dies ist alles so furchtbar dumm, und Kapuzinerkresse bestellt. Und auf dem Küchentisch wirst du drei Flaschen Tignanello finden. Eine zum Vergnügen, zwei fürs Übermaß, drei fürs Bett. Das war dein Spruch. Aber ich bin sicher, daß du von deiner langweiligen, nicht mehr ganz so jungen Frau nicht mit einem romantischen Kerzenlicht-Dinner belästigt werden darfst.«

Sie hatten sich auseinandergelebt, sie in das überwältigende Vollzeiterlebnis der ersten Mutterschaft, das sie so sehr ausfüllte, daß sie es unbedingt wiederholen wollte, er in den Nebel des Versagens und des Ekels vor sich selbst, der durch das Trinken immer dichter wurde. Aber die Ehe war nicht zerbrochen, weitgehend dank Eleanors edelmütigem Herzen, und dank Asmaan. Asmaan, der Bücher liebte und sich stundenlang vorlesen lassen konnte; Asmaan auf seiner Gartenschaukel, wo er Malik bat, ihn endlos zu drehen, damit er sich in einem schnellen, verschwimmenden Wirbel gegen den Uhrzeigersinn wieder entdrehen konnte; Asmaan, auf den Schultern seines Vaters, wie er den Kopf unter den Türstürzen einherduckte (»Ich bin ganz vo’sichtig, Daddy!«); Asmaan beim Fangenspielen, Asmaan, wie er sich unter den Bettdecken und Bergen von Kopfkissen versteckte; Asmaan, wie er versuchte, Rock Around the Clock zu singen - rot around the tot - und, am häufigsten wohl, Asmaan beim Herumhopsen. Er liebte es, auf dem Bett seiner Eltern herumzuhüpfen, während seine Stofftiere ihn anfeuerten. »Seht mir zu«, rief er dann laut, »wie gut ich hüpfe! Ich hüpfe immer höher und höher!«

Er war die junge Inkarnation ihrer alten Liebe, damals, als in ihnen die Herzen zerspringen wollten. Wenn ihr Kind ihr Leben mit Freude überflutete, konnten Eleanor und Malik in einer Phantasie ungestörten Familienglücks Zuflucht suchen. Bei anderen Gelegenheiten jedoch waren die Risse deutlicher zu erkennen. Sie fand sein egozentrisches Elend, sein ständiges Schimpfen auf eingebildete Kränkungen langweiliger und stressiger, als sie es sich jemals anmerken ließ, weil sie dazu nicht grausam genug war; während er ihr, in seiner Abwärtsspirale gefangen, vorwarf, ihn und seine Belange zu ignorieren. Im Bett beschwerte sie sich darüber - flüsternd, damit Asmaan nicht aufwachte, der auf einer Matratze neben ihnen auf dem Fußboden schlief -, daß Malik niemals die Initiative ergriff; er gab zurück, daß sie, bis auf die fruchtbare Zeit des Monats, jegliches Interesse am Sex verloren habe. Und in jener Zeit des Monats kam es unweigerlich zum Streit: ja, nein, bitte, ich kann nicht, warum nicht, weil ich nicht will, aber ich brauche es so sehr, na schön, ich brauche es eigentlich gar nicht, aber ich will nicht, daß dieser süße kleine Junge ein Einzelkind wird wie ich, und ich will in meinem Alter nicht noch einmal Vater werden, wenn Asmaan zwanzig Jahre alt ist, werde ich schon über siebzig sein. Dann folgten Tränen und Zorn und, immer öfter, für Solanka eine Nacht im Gästezimmer. Ein guter Rat für alle Ehemänner, dachte er verbittert: Sorge dafür, daß das Gästezimmer so komfortabel wie möglich ist, denn früher oder später, mein Freund, wirst du dort landen!

Eleanor stand an der Treppe und erwartete nervös eine Antwort auf ihre Einladung zu einem Abend des Friedens und der Liebe. Die Zeit verging mit langsamen Pulsschlägen und gelangte an einen Angelpunkt. Wenn er vernünftig wäre und den Wunsch danach hätte, könnte er jetzt ihre Einladung annehmen, und dann würde, jawohl, ein schöner Abend folgen: köstliches Essen, und die Liebe würde, wenn er in seinem Alter nach drei Flaschen Tignanello nicht sofort einschlief, den alten hohen Standard erreichen. Aber es gab jetzt einen Wurm im Paradies, und er bestand den Test nicht. »Du hast vermutlich deinen Eisprung«, sagte er, und sie zuckte vor ihm zurück, als hätte er sie geohrfeigt. »Nein«, log sie, und dann, sich in das Unvermeidliche fügend: »Ach, na ja, stimmt. Aber könnten wir nicht einfach, ach, ich wünschte, du könntest sehen, wie verzweifelt, ach, zum Teufel damit, was soll’s.« Unfähig, ihre Tränen zurückzuhalten, trug sie Asmaan davon. »Wenn ich ihn zu Bett gebracht habe, werde ich auch schlafen gehen, okay?« sagte sie, vor Zorn weinend. »Mach, was du willst. Nur laß das Lamm nicht in dem verdammten Herd liegen. Nimm es raus und wirf’s in den verdammten Mülleimer.«

Während Asmaan in den Armen seiner Mutter nach oben verschwand, hörte Solanka die Angst in seiner müden Kinderstimme. »Daddy ist nicht böse«, sagte Asmaan, sich selbst beruhigend, obwohl er sich wünschte, beruhigt zu werden. »Daddy will mich nicht wegschicken.«

Allein in der Küche, begann Professor Malik Solanka zu trinken. Der Wein war so gut und schwer wie immer, aber er trank ihn nicht zum Vergnügen. Zielbewußt arbeitete er sich durch die Flaschen, und während er trank, kamen die Dämonen durch die verschiedenen Öffnungen seines Körpers herausgekrochen, glitten in seiner Nase herunter, aus seinen Ohren, tropften und rannen durch jede Öffnung, die sie finden konnten. Als die erste Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert war, tanzten sie auf seinen Augäpfeln, auf seinen Fingernägeln, hatten sie ihre rauhen, schlabbernden Zungen um seine Kehle gewickelt, stießen sie ihre Speere in seine Genitalien, und alles, was er hören konnte, war ihr scharlachroter Gesang des schrillen, grausigen Hasses. Er hatte das Selbstmitleid jetzt hinter sich gelassen und gelangte in einen schrecklichen, schuldbewußten Zorn, und auf dem Boden der zweiten Flasche, als sein Kopf auf dem Hals wackelte, küßten ihn die Dämonen mit ihren gespaltenen Zungen, hatten sie ihre Schwänze um seinen Penis geschlungen, den sie rieben und drückten, und wenn er ihren widerlichen Reden zuhörte, hatte die unverzeihliche Schuld für das, was aus ihm geworden war, begonnen, sich auf die Frau oben zu legen, auf sie, die ihm am nächsten war, die Verräterin, die sich geweigert hatte, seine Feindin zu vernichten, seine Nemesis, die Puppe, sie, die das Gift des Braingirls in das Gehirn seines Kindes geträufelt und den Sohn gegen den Vater aufgestachelt hatte, sie, die den Frieden seines häuslichen Lebens gestört hatte, indem sie das ungezeugte Kind, von dem sie besessen war, ihrem tatsächlich existierenden Ehemann vorzog, sie, seine Frau, seine Betrügerin, seine einzige große Widersacherin. Die dritte Flasche fiel, halb geleert, auf dem Küchentisch um, den sie so liebevoll für das diner à deux gedeckt hatte, mit dem alten Spitzentafeltuch ihrer Mutter, dem besten Besteck und zwei langstieligen Rotweinpokalen aus Böhmerglas, und als sich die rote Flüssigkeit über die alte Spitze ergoß, fiel ihm ein, daß er das verdammte Lamm vergessen hatte, und als er die Tür des Aga-Herdes öffnete, quoll Rauch heraus und löste den Rauchmelder an der Decke aus, und das Schrillen des Alarms war das Gelächter der Dämonen, und um es zu stoppen, zu STOPPEN, mußte er die Trittleiter holen und auf unsicheren, weindunklen Beinen hinaufklettern, um die Batterie aus dem verdammten, idiotischen Ding zu holen, okay, okay, aber selbst als er das geschafft hatte, ohne sich den gottverdammten Hals zu brechen, fuhren die Dämonen fort, ihr kreischendes Gelächter zu lachen, und die Küche war immer noch voll Qualm, verdammt noch mal, konnte sie nicht einmal etwas richtig machen, und wie konnte er dieses Kreischen in seinem Kopf abstellen, dieses Kreischen wie ein Messer, wie ein Messer in seinem Hirn in seinem Ohr in seinem Auge in seinem Magen in seinem Herzen in seiner Seele, konnte das Miststück nicht mal das Fleisch rausnehmen und es da drüben hinlegen, auf das Holzbrett neben den Wetzstahl, die lange Gabel und das Messer, das Tranchiermesser, das Messer.

Es war ein großes Haus, so daß der Rauchalarm weder Eleanor noch Asmaan geweckt hatte, der bereits in ihrem Bett lag, in Maliks Bett. Wozu war dieser dämliche Rauchmelder eigentlich zu gebrauchen, he? Und er stand im Dunkeln vor ihnen, und in seiner Hand lag das Tranchiermesser, und es gab kein Alarmsystem, um sie vor ihm zu warnen. Eleanor lag mit leicht geöffnetem Mund auf dem Rücken, in ihrer Nase gurgelte ein leichtes Schnarchen, Asmaan lag auf der Seite, fest an sie geschmiegt, und schlief den reinen, tiefen Schlaf der Unschuld und des Vertrauens. Im Schlaf murmelte Asmaan Unverständliches vor sich hin, und der Klang seiner leisen Stimme durchbrach das Kreischen der Dämonen und brachte seinen Vater wieder zu Verstand. Vor ihm lag sein einziges Kind, das einzige Lebewesen unter seinem Dach, das immer noch wußte, daß die Welt ein Ort der Wunder, daß das Leben süß und der jetzige Moment alles war, während die Zukunft endlos zu sein schien und man nicht über sie nachzudenken brauchte, daß die Vergangenheit hingegen nutzlos und zum Glück auf ewig vorüber war, und daß er, ein Kind, in den weichen Zaubermantel der Kinderzeit gehüllt, unaussprechlich innig geliebt wurde und in Sicherheit war. Malik Solanka geriet in Panik. Wieso stand er hier, vor diesen beiden Schlafenden, mit einem Messer in der Hand, er war kein Mensch, der so etwas tun würde, über derartige Menschen las man tagtäglich in der Boulevardpresse, primitive Männer und verschlagene Frauen, die ihre Babies abschlachteten und ihre Großmütter aßen, eiskalte Serienmörder, gequälte Pädophile, schamlose Sexualtäter, böse Stiefväter, stumpfe, gewalttätige Neandertal-Affen und sämtliche ungebildeten, unzivilisierten Brutalos der Welt, und das waren ganz und gar andere Menschen, von denen wohnte keiner in diesem Haus, also konnte auch er, Professor Malik Solanka, ehemals King’s College an der University of Cambridge, er vor allem nicht volltrunken hier stehen und ein gefährliches Mordinstrument in der Hand halten. Q. E. D. Und außerdem war ich noch nie gut im Tranchieren, Eleanor. Das mußtest immer du übernehmen.

Die Puppe, dachte er in aufstoßendem, alkoholisiertem Schrecken. Aber natürlich! Diese teuflische Puppe trug die Schuld daran. Er hatte alle Inkarnationen dieser Teufelin aus dem Haus geschafft - bis auf eine. Das war sein Fehler. Sie hatte sich aus ihrem Schrank und durch seine Nase hinausgeschlichen, ihm das Tranchiermesser in die Hand gedrückt und losgeschickt, um ihr blutiges Werk zu vollenden. Aber er wußte, wo sie sich versteckte. Vor ihm konnte sie sich nicht verstecken. Professor Solanka machte kehrt und verließ, das Messer in der Hand, vor sich hin murmelnd, das Schlafzimmer, und falls Eleanor die Augen aufgeschlagen hatte, nachdem er fort war, so wußte er später nichts mehr davon; falls sie seinen Rücken sah, während er hinausging, und falls sie alles mitbekommen hatte und ihn verurteilte, war es an ihr, davon zu sprechen.

Draußen auf der West Seventieth Street war es dunkel geworden. Als er aufhörte zu sprechen, saß Braingirl auf seinem Schoß. Ihre Kleider waren zerschnitten und zerrissen, und man konnte sehen, wo das Messer ihrem Körper tiefe Schnitte zugefügt hatte. »Sehen Sie, selbst nachdem ich sie erstochen hatte, konnte ich sie nicht zurücklassen. Während der ganzen Reise nach Amerika hielt ich ihren Körper in den Armen.« Milas eigene Puppe musterte ihren zerstörten Zwilling stumm. »Jetzt haben Sie alles gehört, und das ist sehr viel mehr, als Sie eigentlich wollten«, sagte Solanka. »Jetzt wissen Sie, wie dieses Ding mein Leben zerstört hat.« Mila Milos grüne Augen flammten. Sie kam herüber und nahm seine beiden Hände zwischen die ihren. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Ihr Leben ist nicht zerstört. Und das hier - ich bitte Sie, Professor! -, das sind doch nur Puppen!«